Gründungstext des
Bundesverbandes Produktionsschulen
(Auf der Gründungsversammlung einstimmig verabschiedet)
Ein Jahr nach dem Ende des Ersten Weltkriegs (1919) warb der Schulreformer Paul Oestreich mit einem flammenden Aufruf für seine humanen und reformpädagogischen Anliegen, die er mit dem „Bund entschiedener Schulreformer“ zu verwirklichen suchte. Ähnliche Anliegen verfolgen wir, die wir heute den „Bundesverband Produktionsschulen“ gegründet haben. Wir verstehen uns als freien Zusammenschluss von Institutionen und Personen, die sich, angeregt durch die erfolgreichen Modelle in Dänemark, seit Jahren für den Aufbau und die Weiterentwicklung von Produktionsschulen engagieren.
In einem intensiven Diskussionsprozess und in Auseinandersetzung mit der aktuellen bildungspolitischen Situation haben wir uns vor allem auf qualitative Kriterien verständigt, die beim Auf- und Ausbau von Produktionsschulen (PS) zugrunde zu legen sind. Unsere „Produktionsschulprinzipien“ (vom Juli 2006) betonen den dringenden politischen Handlungsbedarf: „Das Schulsystem in Deutschland mit seinen hoch entwickelten Selektionsmechanismen lässt Zehntausende Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen und kulturell benachteiligten Schichten nahezu chancenlos bleiben. Ein Bildungssystem, das die kulturellen und sozialen Voraussetzungen der Individuen so wenig zum Ausgangspunkt des Lernens macht wie das deutsche, reproduziert soziale Ungleichheit und wirkt damit verheerend auf die Verteilung von Lebenschancen. Die Produktionsschulen wollen mit ihrem Lernkonzept einen Beitrag zur Überwindung von Bildungsarmut leisten. Sie verstehen sich in erster Linie als ein Angebot an Systemverlierer, die nicht über die Basiskompetenzen verfügen, die nötig sind, um auf dem Erwerbsarbeits- und Ausbildungsmarkt zu bestehen.“ Zugleich enthalten die „Produktionsschulprinzipien“ in 13 Artikeln qualitative Maßstäbe für die Ausgestaltung und Weiterentwicklung von PS. Inzwischen gibt es in Deutschland über dreißig PS, viele Gründungsinitiativen und zahlreiche Einrichtungen, die sich an der Arbeitsweise von PS orientieren. Es scheint uns an der Zeit zu sein, entschlossen den internen Diskussionskreis zu vergrößern und mit dem „Bundesverband Produktionsschulen“ eine fachliche Basis sowohl für die Etablierung des Produktionsschulgedankens als auch für eine Vertretung nach außen zu schaffen.
„Produktionsschule“ ist ein begriffliches Paradox. Denn PS sind keine Schulen im herkömmlichen Sinn und sie produzieren auch nicht nur. Produktion und Dienstleistung bilden den didaktischen Kern der PS, die Werkstätten bilden ihr pädagogisches Zentrum. Lernen erwächst aus der produktiven Handlung. Maßstab bei der Erstellung von Gütern und Dienstleistungen ist die Vereinbarkeit mit den pädagogischen Zielen sowie mit der (Arbeits-)Marktrealität im Umfeld der PS.
Die reformpädagogische Tradition der PS zeigt sich in einer hohen Praxis- bzw. Handlungsorientierung aller Lernprozesse; theoretische Inhalte und Fragestellungen werden unmittelbar aus der Praxis abgeleitet. Die Lern- und Arbeitsprozesse sollen für die Teilnehmenden nachvollziehbar sein. Freude am Lernen und Arbeiten, Neugier auf Veränderung und ein respektvolles, konstruktives Miteinander sollen den Alltag in einer PS prägen. Dem steht nicht entgegen, dass die Teilnehmenden für ihre Arbeit in der PS entlohnt werden.
PS sehen ihre besondere Aufgabe darin, jungen Menschen mit beruflichem Förderbedarf Kenntnisse, Fähigkeiten und Verhaltensweisen zu vermitteln, die für die Aufnahme einer Berufsausbildung und einer Erwerbstätigkeit notwendig sind. Das schließt eine umfassende Entwicklung der Persönlichkeit und den Erwerb sozialer Kompetenzen wie z.B. Leistungs-, Kooperations- und Verantwortungsbereitschaft mit ein. In PS kann die Schulpflicht der allgemein bildenden Schule bzw. der Berufsschule erfüllt werden. PS nehmen von Ausgrenzung bedrohte Schülerinnen und Schüler ab Klasse 8 auf, bereiten sie auf die Rückkehr in Regelschulen vor oder vermitteln ihnen eventuell einen Schulabschluss. PS bieten ihren Teilnehmenden, die im ersten Arbeitsmarkt weder eine Berufsausbildung noch eine Beschäftigung finden, Anschlussperspektiven. Sie fungieren dann als außerbetriebliche Ausbildungsstätten und als soziale Betriebe des zweiten Arbeitsmarktes.
PS stehen allen jungen Menschen offen, die keine Chance zur Berufsausbildung erhalten haben. Durch Differenzierung des Lernangebots wird dem unterschiedlichen Leistungsvermögen der Teilnehmenden Rechnung getragen. Junge Menschen mit Migrationshintergrund erhalten bei Bedarf eine besondere Förderung, wenn es z.B. um die Verbesserung ihrer Sprachkompetenz geht. In PS werden Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 14 bis 25 Jahren aufgenommen. Die Verweildauer bemisst sich nach dem individuellen Förderbedarf. Als Berufsausbildungsvorbereitung beträgt sie ein bis zwei Jahre, in Ausnahmefällen drei Jahre. Wenn sich eine Berufsausbildung oder Beschäftigung in der PS anschließt, kann der Aufenthalt bis zur Erreichung des 25. Lebensjahres ausgedehnt werden.
In PS erfolgt die Förderung der jungen Menschen, ansetzend an ihren Kompetenzen, ganzheitlich und so weit wie möglich individualisiert. Die berufsfachliche Förderung wird durch Angebote ergänzt, die das Sozial- und Arbeitsverhalten des jungen Menschen stabilisieren, seine Interessen erweitern und aktives und demokratisches Bürgerengagement entwickeln. Individualisierung der Förderung erfordert neben einer flexiblen Förderdauer eine ausreichende Personalausstattung. Gruppengrößen von durchschnittlich acht Teilnehmenden und in Ausnahmefällen auch Einzelbetreuung müssen möglich sein. PS müssen über Personal für alle anfallenden Förder-, Betreuungs- und Managementaufgaben verfügen. Vorzugsweise ist Personal einzustellen, das sowohl über berufsfachliche als auch allgemein-pädagogische Fähigkeiten verfügt und empathisch handeln kann.
Für PS ist eine Rechts-/Gesellschaftsform vorzusehen, die ihnen Selbständigkeit garantiert und es möglich macht, die wichtigsten regionalen Akteure aus dem Schulbereich, der Arbeitsverwaltung und der Wirtschaft verantwortlich in die Trägerschaft einzubeziehen. Auf die Einbindung der Wirtschaft kommt es entscheidend an, damit sich für die Teilnehmenden bessere Ausbildungs- und Beschäftigungsperspektiven auf dem ersten Arbeitsmarkt eröffnen.
Von ausschlaggebender Bedeutung ist die rechtliche und finanzielle Absicherung von PS. Nach dänischem Vorbild sind (von den Ländern) PS-Gesetze zu schaffen und, wo erforderlich, bestehende Rechtsvorschriften zu ändern. Die Finanzierung von PS ist vorerst durch Vereinbarungen zwischen den bisherigen Geldgebern im Bereich der beruflichen Benachteiligtenförderung sicher zu stellen (Bundesagentur für Arbeit, Bundesländer und gemäß seinen Zuständigkeiten auch der Bund). Längerfristig muss eine ausschließlich staatliche Finanzierung angestrebt werden. Denn die Förderung junger Menschen bis zur Beschäftigungsfähigkeit ist als eine vorrangige staatliche Aufgabe anzusehen.
Zur Optimierung der PS-Konzeption mögen einzelne Aspekte – organisatorische, rechtliche und auch pädagogische weiterer Klärung bedürfen. Gleichwohl ist die Annahme berechtigt, dass PS gegenüber bisherigen Förderinstrumenten große Vorteile versprechen. Diese Vorteile liegen nicht nur in der Chance zu einer wesentlich erhöhten Effizienz der Bildungsarbeit, aus der Sicht sowohl der Teilnehmenden als auch der Geldgeber. Junge Menschen werden in PS auch besser auf eine spätere Erwerbsarbeit vorbereitet, weil ihre berufliche Qualifizierung unter betrieblichen Bedingungen erfolgt. Dadurch dass sie Produkte und Dienstleistungen für den Markt erstellen, erfahren sie die Ernsthaftigkeit ihres Tuns und eine Bestätigung ihrer Leistungsfähigkeit. Zusammen mit der Entlohnung führt das zu einer generellen Stärkung ihrer Motivation und ihres Selbstwertgefühls.
Die vielfältigen Vorteile, die die PS-Konzeption bietet, kommen erst dann voll zum Tragen, wenn die gesamte berufliche Grundbildung die (berufs-)schulische wie die außerschulische in dieser Einrichtung zusammengefasst wird. Erst dann ist auch die dringend notwendige Transparenz im Förderangebot zu erreichen. Was generell für die Jugend(berufs)hilfe und berufliche Benachteiligtenförderung gilt, gilt auch für die PS-Bewegung: Entscheidend für den weiteren Auf- und Ausbau von PS ist das allgemeine gesellschafts- und sozialpolitische „Klima“. PS werden sich nur durchsetzen, wenn die Überzeugung wächst, dass auch die Benachteiligten in den nachwachsenden Generationen unsere solidarische Unterstützung verdienen.
Für wirksame Maßnahmen im Bereich der beruflichen Benachteiligtenförderung wie den Auf- und Ausbau von PS sprechen nicht nur sozialethische und gesellschaftspolitische Überlegungen, sondern auch mindestens zwei wichtige ökonomische Tatsachen. Da sind einmal die hohen Folgekosten, die in der „Nachsorge“ entstehen, wenn die rechtzeitige berufliche Förderung junger Menschen vernachlässigt wird. Und da ist zum anderen die demografische Entwicklung, die im Hinblick auf die Sicherung eines ausreichenden Fachkräftenachwuchses dazu zwingt, die Potenziale aller jungen Menschen zu aktivieren. Eine möglichst effiziente Förderung benachteiligter junger Menschen, wie sie in PS am besten erfolgen kann, liegt also nicht zuletzt auch im wirtschaftlichen Interesse unseres Landes.
Wolgast (Usedom), 1. Februar 2007